Geheimdissertationen in Kummersdorf
von Dr. Günter Nagel
Die Wurzeln des deutschen Raketenprogramms (bis 1945) liegen bekanntlich zum Großteil in der Versuchsstelle West der Heeresversuchsstelle Kummersdorf. Während die Ereignisse in Peenemünde weitestgehend erforscht und auch gut dokumentiert sind, bleibt zu den Raketenarbeiten in Kummersdorf immer noch vieles offen. Zu dieser Thematik gehören auch die hier entstandenen Geheimdissertationen, die von Prof. Dr. Erich Schumann (1898-1985) von der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin initiiert, betreut und unter seiner maßgeblichen Beteiligung erfolgreich abgeschlossen wurden. Von jenen geheimen Doktorarbeiten, die sich mit der gerade im Entwicklungsstadium befindlichen, vielfach noch weitgehend rätselhaften, unbekannten Raketentechnik befassten, ist der Öffentlichkeit bisher nur die des Wernher von Braun (1912-1977) bekannt. Diese Schrift „Konstruktive, theoretische und experimentelle Beiträge zu dem Problem der Flüssigkeitsrakete“, 1934, wurde 1960 erstmals publiziert (Sonderheft 1 „Raketentechnik und Raumfahrtforschung“, Stuttgart). Der Verbleib des Originals ist ungeklärt. Das betrifft auch die anderen Geheimdissertationen, deren experimentelle Daten in Kummersdorf, unter der Obhut der Forschungsabteilung (WaF) des Heereswaffenamtes (HWA) gewonnen wurden. (WaF war hervorgegangen aus der „Zentralstelle für Heeresphysik und Heereschemie“, fungierte ab 1933 unter der Bezeichnung Wa Prüf 11 und wurde 1938 umbenannt in WaF, direkt unterstellt dem Chef des HWA).
Im Ergebnis aufwändiger Recherchen konnte der Autor im Jahr 2001 die vollständige Kopie einer der von Schumann betreuten Geheimarbeiten zur Raketenthematik auffinden. Es handelt sich um die Arbeit von Dr. phil. Heinz-Otto Glimm, geboren am 4.01.1911, zuletzt bei WaF Leiter des Referates I c „Ballistik, Raketen, Leichtgeschütz, Düsengeschütz, Weitreichengeschoß“. Glimm machte 1929 sein Abitur in Cottbus und nahm danach an der Universität Berlin das Studium der Physik, später zusätzlich der Mathematik auf. Ab 1932 begann er am II. Physikalischen Institut der Universität Berlin an seiner Dissertation zu arbeiten. Schumann hatte ihn als Thema vorgegeben: „Über die Rückstoßkraft von Gasstrahlen, die durch explosive Verbrennung moderner kolloidaler Pulver in einer Bombe mit Ausströmöffnung erzeugt werden“. Die notwendigen Experimente erfolgten in Kummersdorf, in der Versuchsstelle Gottow, einer eigenständigen Forschungseinrichtung von WaF. Die dem Doktoranden gestellte Aufgabe lautete „auf experimentellem Wege den zeitlichen Verlauf der Rückstoßkräfte zu bestimmen, die durch Verbrennung moderner kolloidaler Pulver in einer druckfesten Versuchsbombe…erzielt werden“. Glimm untersuchte vor allem die Pulversorten RPC 12 (10 x 5,5/2) und RPC 12 (20 x 8/3,5). Für Vergleichszwecke zog er zusätzlich vier andere Pulversorten heran. Die von ihm gewählte Versuchsanordnung beschrieb er, vereinfachend wie folgt: „Die Verbrennungsbombe mit der Düsenöffnung wurde pendelnd aufgehängt, die Pulverladung zum Zerknall gebracht, der Rücklauf des Pendels zeitlich registriert, und aus der Weg-Zeit-Kurve des Rücklaufvorganges durch zweimaliges Differenzieren der Verlauf der beschleunigenden Kräfte gewonnen, die der ausströmende Strahl der Verbrennungsgase auf die Bombe ausübte“. Grundlage war eine Musterbombe, wie sie damals bei der Chemisch-Technischen Reichsanstalt Verwendung fand.
Sie musste jedoch um-, später sogar neu konstruiert werden, um den teilweise völlig veränderten Anforderungen der Glimmschen Versuche gerecht zu werden. Besondere Schwierigkeiten bereiteten die Düsen, da die bisher bekannten Arten schnell ausbrannten. Auch die anderen Bestandteile der sonst üblichen Versuchsanordnungen wie Pendelaufhängung, Zündung, Schaltungen, Zeitschreiber und andere Messeinrichtungen waren beträchtlich zu modifizieren.
Als wesentliches Ergebnis seiner wissenschaftlichen Untersuchungen konnte Glimm u. a. konstatieren: „Die Anschauung der Schweikertschen Theorie über den Zusammenhang zwischen Innendruck und Rückstoß steht im Widerspruch zu den experimentellen Ergebnissen“. (Prof. Schweikert war ein führender Ballistiker bei WaF, der schon seit vielen Jahren theoretisch auf diesem Gebiet arbeitete.)
Im Mai 1935 wurde die Schrift des jungen Doktoranden von den Professoren Schumann und Wehnelt angenommen und mit „sehr gut“ bewertet. Gleichzeitig entschied Schumann, dass sie „geheim“ einzustufen sei und in den Akten des Reichswehrministeriums abzulegen ist. Zur Tarnung wurde der Titel geändert in „Ballistische Untersuchungen“ – so auch aufgenommen in die Bibliographien. Niemand konnte und kann daraus entnehmen, dass der Inhalt einen Beitrag zur Klärung grundlegender Fragen bei der Entwicklung von Feststoffraketen leistete.
Entgegen der damals geltenden Vorschriften hatte Glimm eine Kopie seiner Dissertation einbehalten. Als sich im Februar 1945 der Angehörige der Studentenkompanie von WaF Claus Christian Cobarg (geb. 1921) nach bestandenem Praktikum in der Versuchsstelle Gottow auf seine Diplomprüfungen vorbereitete, erbat er sich von Dr. Glimm dieses Exemplar. Im März 1945 bewältigte Cobarg erfolgreich sein Studium und erhielt den Titel eines Diplom-Physikers. In den Wirren der letzten konnte er die ausgeborgte Schrift nicht mehr zurückgeben. Er behielt sie auch bei dem fluchtartigen Rückzug von Teilen der Studentenkompanie nach Norddeutschland. Im Jahr 1999 stieß der Autor, der inzwischen auch Kontakt zur Familie Glimm gefunden hatte, auf Cobarg, wohnhaft in Königstein/Taunus. Dieser stellte bereitwillig das noch vorhandene Exemplar als Kopie für die Familie Glimm sowie das Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin zur Verfügung. Durch Cobarg wurde zusätzlich ein weiterer Angehöriger der Studentenkompanie bekannt, der dabei war, als am 21. April 1945 sowjetische Vorrausabteilungen das Kummersdorfer Gelände erreichten und auf dem Kasernensportplatz eine Batteriestellung überrannten. Bei dem Versuch eines der Geschütze noch zu sprengen, wurde der in den „Volkssturm“ eingereihte Dr. Glimm tödlich getroffen. Weitere Nachforschungen in Kummersdorf lassen kaum noch Zweifel, dass er einer der 304 unbekannten Gefallenen war, die zusammen mit mehr als 800 identifizierten Toten Ende April 1945 auf dem Friedhof Kummersdorf-Gut bestattet wurden. Viele Jahre waren der Familie diese tragischen Ereignisse unbekannt, der Vater galt als vermisst. Erst durch die Recherchen zu den Geheimnissen von WaF konnte eine Kriegsschicksal von 1945 geklärt werden - 57 Jahre später. Endlich war der Familie ein bewegendes Gedenken an der Grabstelle möglich.
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Eine andere Geheimdissertation zu Grundfragen der Raketentechnik, die bei WaF in Kummersdorf entstand, wurde Anfang 2003 in Auszügen bekannt. Sie wurde verfasst von Erich Seifert (geb. 1911), ebenfalls II. Physikalisches Institut, eingestuft als „Geheime Kommandosache“ und 1938 bei den Professoren Schumann und Thiessen mit großem Erfolg verteidigt. Das Thema lautete: „Über die Eignung verschiedener Kraftstoffe als Brennstoffe für das Rauchspurgerät II, insbesondere den 20 kg Heylandt-Ofen“. Auch dazu legte Schumann einen Tarntitel fest: „Untersuchungen über Verbrennungsvorgänge“. Von mindestens sechs weiteren Geheimdissertationen sind Hinweise bekannt, dass sie sich mit der Raketenthematik befassten.
Unbekannt ist bisher der Verbleib all dieser Schriften. Verschiedenes deutet darauf hin, dass sie 1945 Beutegut sowjetischer Spezialkommandos wurden und nach Moskau gelangten, wo man sie verschiedenen Ministerien der Rüstungsindustrie zuteilte. |
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